Historische Erforschung von Katastrophen: Stand und Perspektiven der Forschung

Historische Erforschung von Katastrophen: Stand und Perspektiven der Forschung

Organisatoren
DFG-Netzwerk „Historische Erforschung von Katastrophen in kulturvergleichender Perspektive“
Ort
Stuttgart
Land
Deutschland
Vom - Bis
16.03.2006 - 17.03.2006
Url der Konferenzwebsite
Von
Andreas Dix, Geographisches Institut der Universität Bonn, Historische Geographie

Das im Herbst 2005 bewilligte Wissenschaftliche Netzwerk, getragen von 12 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern historischer Disziplinen aus Deutschland, der Schweiz und Neuseeland, hat sich zum Ziel gesetzt, Katastrophen von der Antike bis ins 20. Jahrhundert, räumlich auf Europa und Asien fokussiert, zu untersuchen. Mitglieder, Themen und Aktivitäten des Netzwerks werden auf der Webpage des Netzwerks 1 näher vorgestellt.

Ziel des ersten Treffens war es, die von den Netzwerkmitgliedern aktuell verfolgten Forschungsprojekte und die geplanten Aktivitäten vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Forschungslage zu diskutieren. Zusätzlich waren drei Gäste eingeladen, die ihre spezifischen Fragen und Methoden ergänzend einbringen sollten.

Gerrit Schenk (Stuttgart) spannte in seinem Einführungsreferat einen weiten Rahmen, indem er den Ausbruch des indonesischen Vulkans Tambora im April 1815 in seinen Auswirkungen mit der Situation in Mitteleuropa, besonders im Königreich Württemberg, in Verbindung setzte. Einerseits stellte er die Quellen vor, mit deren Hilfe der Vulkanausbruch rekonstruiert werden kann, andererseits verdeutlichte er die Folgen und gesellschaftlichen Reaktionen besonders nach dem „Jahr ohne Sommer“ 1816. Das Spannungsfeld zwischen „Materialität“ und kultureller Konstruktion von Katastrophen stellte Schenk mit diesem Beispiel als ein zentrales Forschungsfeld des Netzwerkes vor, über das auch im Zusammenhang der anderen Referate intensiv diskutiert wurde.

Als erster Gast analysierte Egon Flaig (Greifswald) in seinem Vortrag „Wie ein fatales Ereignis zur politischen Katastrophe wird – am Beispiel des Untergangs der spartanischen Vormacht“ den Untergang Spartas nach der Schlacht bei Leuktra 371 v. Chr. als eine ganz anders geartete Katastrophe. Er stellte den Aspekt der Erinnerung und Erzählung in den Mittelpunkt, indem er der Frage nachging, wie sich außergewöhnliche Ereignisse als solche konstituieren. Im Extremfall werden „absolute Katastrophen“ als starke Unterbrechungen eines normalen Kontinuums gesehen. Sie zerreißen das „semantische Netz der Kommunikation“. Die Menschen, die eine solche Katastrophe unmittelbar erlebt haben und entweder – im Fall einer Naturkatastrophe – in ihr umkommen oder – im Fall einer eroberten Stadt – versklavt und in alle Winde zerstreut werden, sind nicht mehr in der Lage, von dem Ereignis Zeugnis abzulegen. Die Kategorie des Wissens, aus der normative Gewissheit abgeleitet werden kann, und der Horizont der Erwartung existieren nicht mehr. Diese von Flaig als „absolute Katastrophen“ bezeichneten Ereignisse können deshalb nur von außen, d.h. von Beobachtern, die nicht ins Geschehen mit einbezogen waren, beschrieben werden. Diese Beschreibung ist aber etwas völlig anderes als das, was die unmittelbar Betroffenen erlebt haben.

Mischa Meier (Tübingen) schloss mit seinem Vortrag über „Naturkatastrophen und Geschichtsschreibung in der Antike“ mit der Spätantike an. Seine Forschungen erstrecken sich z.B. auf das Zeitalter Justinians, dessen zeitgenössische Bewertung er mit Hilfe der Analyse von Katastrophenschilderungen des 6. Jahrhunderts erforscht. Am Beispiel der Chronik des Johannes Malalas erläuterte er narratologische Strategien der Einbindung von Prodigien und Katastrophen in die christliche Historiographie. Die z.B. christlich-apokalyptisch gefärbten Erwartungshaltungen der Autoren führten zu bestimmten Darstellungsmustern für Katastrophen, die vielleicht auch als Bewältigungsstrategien gedeutet werden können.

Anna Akasoy (Warburg Institute, London) „Zum Umgang mit Naturkatastrophen in den arabisch-islamischen Wissenschaften des Mittelalters“ und Andrea Janku (Heidelberg) „Hunger, die neue Presse und die junge Nation: Katastrophenerfahrungen im China der späten Kaiserzeit“ stellten zwei Projekte aus dem außereuropäischen Raum vor. Anna Akasoy berichtete über arabische Quellen, die Katastrophen zum einen als Projektion der Vergangenheit wie auch als apokalyptische Konzepte deuten. Die innere Logik von Katastrophendeutungen wird nur rekonstruierbar, so ihre These, wenn sie aus der Sichtweise jeweils sehr unterschiedlicher Quellen beleuchtet wird. Andrea Janku berichtete über die große Hungersnot im Norden Chinas zwischen 1876 und 1879. Die betroffenen Regionen waren ursprünglich durch den Handel reich geworden, dann durch Rebellionen und Kriege geschwächt. Über die Hungersnöte wurde in den offenen Handelshäfen durch Zeitungen berichtet. Durch ihre mediale Vermittlung wurde die Hungersnot zu einem weltweit beachteten Phänomen, das erstmals internationale Spendenaktionen für China auslöste. Dadurch wurde die Hungersnot auch vor Ort ganz anders bewertet und bewährte traditionelle Praktiken kritisiert, wie z.B. der Verkauf von Menschen oder Regenrituale.

Als zweiter Gast sprach Kay Peter Jankrift ( Münster) in seinem Vortrag „Katastrophen in der Vormoderne: Fallbeispiele“ über Katastrophenschilderungen und –interpretationen in mittelalterlichen Quellen. An einigen Beispielen schilderte er die erstaunlich dichte Überlieferung, die bereits im frühen Mittelalter mit chronikalischen Quellen, Urkunden und normativen Quellen einsetzt, während im Spätmittelelter dann Quellen mit städtischem Entstehungshintergrund dominieren. Mittelalterliche Katastrophenschilderungen folgten häufig biblischen Erzählmustern. Noch zu wenig bearbeitet sind technische und praktische Aspekte der Gefahrenabwehr, beispielsweise die mittelalterliche Deichbautechnik.

Gerrit Schenk (Stuttgart) stellte in seinem Beitrag „Kulturhistorische Studien zu spätmittelalterlichen Katastrophen im Arnotal und am Oberrhein in vergleichender Perspektive“ das Konzept einer räumlich vergleichenden Untersuchung vor. Anhand von unbearbeitetem Archivmaterial soll vorrangig die Mentalität und kulturelle Praxis im Hinblick auf die unmittelbare Katastrophenerfahrung, -bewältigung und –prävention untersucht werden. Dabei wird es besonders um die Beziehung zwischen religiösen Deutungsmustern und pragmatischen Abwehr- und Schutzmaßnahmen gehen.

Marie-Luise Allemeyer (Göttingen) berichtete in ihrem Referat „Zwischen ‚Fewersnoth’ und ‚Wassernoth’. Stadtbrände und Sturmfluten als ‚normale Ausnahmefälle’ der frühneuzeitlichen Gesellschaft“ über frühneuzeitliche Katastrophenerfahrungen. Es sollen die Lebenswelten rekonstruiert werden, in die katastrophale Ereignisse – hier Stadtbrände am Beispiel von Rostock – hereinbrachen. Der hermeneutische Vorteil der Untersuchung von Katastrophen ist es, daß sie je nach Betroffenheitsgrad bei den Akteuren eine Stellungnahme und klare Position erzwängen. Für die Analyse stehen hier sowohl Brandordnungen als normative wie auch Brandpredigten als deutende Quellen zur Verfügung. Daraus lassen sich Erklärungsperspektiven unterschiedlicher Akteure wie Prediger, Räte, Erfinder und Betroffene ermitteln. So lassen sich an diesem Beispiel die Wirkungsweisen und die Wirksamkeit religiöser wie technisch-pragmatischer Aktionen untersuchen, die von den Zeitgenossen nicht unterschieden wurden.

Franz Mauelshagen (Zürich) berichtete in seiner methodischen Skizze „Politik der Katastrophe: vergleichende Perspektiven in der frühen Neuzeit (ca. 1550 – 1750)“ über Aspekte einer vergleichenden Analyse der Politik der Katastrophen in der Frühen Neuzeit in den Niederlanden, der Schweiz und Deutschland. Politik meint in diesem Fall die „Organisation des Ausnahmefalls“, die nach Luhmann so benannte Herstellung „sekundärer Normalität“. Daraus leiten sich „Einschreibungsprozesse“ in Gesellschaften ab, also die Herstellung und Tradierung von Praktiken, die die Bewältigung von Katastrophenereignissen für die Gesellschaft erleichtern sollen.

Mit den katastrophalen Überschwemmungen in der Schweiz im Jahre 1868 beschäftigte sich Stephanie Summermatter (Bern) in ihrem Vortrag über „Prävention und Bewältigung von Naturkatastrophen durch das politisch-administrative System der Schweiz am Beispiel des Hochwasserschutzes seit 1877“ unter der Frage, wie regionale politische Einheiten, hier die Kantone Bern und Wallis, mit den Folgen dieses Ereignisses umgegangen sind, wie groß die Handlungsspielräume der Kantone bei der Umsetzung von Bundesgesetzen waren und wie diese Maßnahmen innerhalb der Verwaltung auch im Bezug auf sich verändernde Umweltbedingungen umgesetzt wurden. Der Untersuchungszeitraum spannt sich von 1848 bis 1991. In dieser Zeit kann Summermatter eine doppelte Verstaatlichungstendenz ausmachen; die Verantwortung und auch die Kosten der Baumaßnahmen werden von den Gemeinden auf die Kantone und schließlich auf den Bund verlagert.

Als letzter Gast sprach Dieter Schott (Darmstadt) über „The role of disasters in urban history“. Am Beispiel „urbaner Großkatastrophen“, dem Stadtbrand von London 1667, dem Erdbeben von Lissabon 1755 und der Sturmflut in Hamburg 1962 verglich Schott unterschiedliche Strategien der Katastrophenerfahrung, -bewältigung und des vorbeugenden Schutzes in Städten. Er zielte nicht nur auf eine Typologie urbaner Katatrophen, sondern auch auf eine systematische Ordnung der Reaktions- und Präventionsmuster ab. Besonders im Hinblick auf die Ereignisse von London und Lissabon verdeutlichte Schott die unterschiedlichen Bewältigungs- und Rekonstruktionsstrategien, die sich in London auf ein liberalistisches Modell und in Lissabon auf ein zentralistisch-dirigistisches Modell stützten.

Eine andere, theoretische Perspektive stellte Jens Ivo Engels (Freiburg) vor, indem er nach der Brauchbarkeit der von Bruno Latour und Michel Callon seit den achtziger Jahren entwickelten „Akteur-Netzwerk-Theorie“ für die Erforschung von Naturkatastrophen fragte. Die Untersuchung setzt hier an der in der Umweltgeschichte häufig geäußerten Kritik einer inhärent anthropozentrischen und hierarchischen Sichtweise vieler Forschungen an. Die Akteur-Netzwerk-Theorie kann nun, so Engels, die „Umwelt“ aus ihrem Objektstatus herausholen und dadurch möglicherweise eine neue Perspektive für die historische Erforschung von Katastrophen eröffnen. Engels ließ jedoch die Frage offen, ob die Anwendung der Akteur-Netzwerk-Theorie für die Forschung grundlegend neue Erkenntnisse schafft. Allerdings forderte er zu entsprechend motivierten Untersuchungen auf.

Andreas Dix ( Bonn) sprach abschließend über „Historische Hangrutschungen an der Schwäbischen Alb. Rekonstruktion und Wahrnehmung“ Er berichtete über ein von der DFG gefördertes Forschungsprojekt, das sich mit dem in der historischen Katastrophenforschung bisher weniger beachteten Risikotyp der Hangrutschungen am regionalen Beispiel der Traufzone der Schwäbischen Alb beschäftigt. Gestützt auf unerschlossenes Archivmaterial geht es hier zum einen um eine diachrone Rekonstruktion von Ereignissen und Prozessen. Durch die Recherche konnten Einzelereignisse bis ins 15. Jahrhundert zurückverfolgt werden. Bereits jetzt wird deutlich, dass das Wissen um diese historischen Ereignisse sehr lückenhaft ist. Zum anderen können über die Quellen auch historische Modi der Wahrnehmungsweisen, der Reaktionen und der Risikokommunikation rekonstruiert und bewertet werden. Ausgehend von der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts konnten bisher einige charakteristische Epochen der Risikobewältigung und –kommunikation formuliert werden, die möglicherweise auch zur Erklärung heutiger Strategien der Risikobewältigung dienen können.

In der Abschlussdiskussion wurden auf der Basis der vorgestellten Projekte einige große Themenfelder identifiziert und diskutiert, die sich zu inhaltlichen und methodischen Leitlinien für die weitere Arbeit des Netzwerkes entwickeln können. Hierzu gehören Fragen zu Entwicklungs- und Orientierungsmustern religiöser und wissenschaftlicher Natur, methodische Aspekte der Rekonstruktion und Analyse von Einzelereignissen wie auch eine weitere vertiefte historische Beschäftigung mit dem gängigen Begriffsinstrumentarium der Risikoforschung.

Das nächste Arbeitstreffen des Netzwerks, organisiert von Franz Mauelshagen, wird in Zürich vom 7.-9. September 2006 „Naturkatastrophen und vormoderne Gesellschaften“ thematisieren.

Anmerkung:
1 <http://www.hist.unizh.ch/disaster > (25.04.2006)


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